Eine exemplarische Herangehensweise an den humangeographischen Film
Im folgenden Post wird exemplarisch erklärt, wie
Videomaterial aufgearbeitet werden kann. Dafür wird eine kurze Videosequenz von
8 Minuten verwendet.
Zunächst wird das Material textlich aufgefasst und
interpretiert. Anschließend wird ein kleiner Überblick über die historischen
Hintergründe des humangeographischen Films gegeben.
Die verwendeten Aufnahmen stammen aus der Grazer Innenstadt. Sie wurden gegenüber des Grazer Doms aufgenommen und erstrecken sich über eine Zeitspanne von zirka 8 Minuten. Die Aufnahmen wurden um die Mittagszeit in einer statischen Position aufgenommen, um die Daten nicht durch Bewegung zu verfälschen und das Geschehene konstant von einer einzelnen Perspektive zu zeigen.
Der Blickwinkel der Kamera zeigt einen
Teil des Grazer Doms sowie die daran vorbeiführende Hofgasse und den
dazugehörenden Gehsteig auf beiden Seiten der Straße. Die Kamera wurde auf
einer der Bänke platziert, welche sich direkt hinter dem Gehsteig auf der
gegenüberliegenden Seite des Doms befinden. Zu sehen sind außerdem geparkte
Autos auf der Seite des Doms, ein Baustellenzaun um eine dunkle Konstruktion an
der Ecke zur Bürgergasse und eine Tür, welche Eingang zum Dom selbst gewährt.
Um die Analyse von einzelnen Situationen einfacher zu machen
und die Privatsphäre der gezeigten Personen durch Zensur zu respektieren,
wurden Screenshots der Aufnahme erstellt. Anhand diesen wird folglich eine
textliche Beschreibung der Interaktionen, welche innerhalb des Raumes
passieren, erstellt.
(Abbildung 1, Quelle: Eigene Darstellung)
(Abbildung 2, Quelle: Eigene Darstellung)
Der nächste Ausschnitt zeigt, wie sich die beiden Personen voneinander entfernen, und dabei ein paar Worte wechseln. Die Frau stemmt ihre Hände in ihre Hüfte. Ihre Körpersprache könnte bedeuten, dass sie sich im Streit, mit dem ihr gegenüberstehenden Mann befindet.
(Abbildung 3, Quelle: Eigene Darstellung)
Nachdem der Mann den gefilmten Bereich verlässt, bleibt die Frau einige Momente stehen und sieht ihn die Richtung, in die er den Raum verlassen hatte.
Daraufhin begibt sie sich wieder zurück zum Eingang des Doms und stellt sich hinter das dunkelblaue Auto, welches vom Blickwinkel der Kamera aus nach links versetzt vor der Eingangstür des Doms steht.
(Abbildung 4, Quelle: Eigene Darstellung)
In Abbildung 4. öffnet sich die Tür erneut und zwei weitere Personen verlassen das Gebäude. Es lässt sich annehmen, dass es sich um zwei junge Männer handelt. Sie verlassen den Bereich nach links. Die Frau vom Anfang der Aufnahme hält sich weiterhin hinter dem abgestellten Auto auf.
(Abbildung 5, Quelle: Eigene Darstellung)
Schließlich betreten drei Personen die Kirche durch die zu
sehende Eingangstür. Es handelt sich dabei höchstwahrscheinlich um zwei Kinder
und deren Mutter. Sie erscheinen im rechten Bildrand, gehen zielstrebig auf die
Eingangstür zu und passieren dabei die Frau hinter dem blauen Auto.
(Abbildung 6, Quelle: Eigene Darstellung)
Als nächstes erscheinen links im Bild zwei Personen. Es scheint sich um einen Mann und eine Frau zu handeln. Der Mann trägt ein Buch in der Hand und liest es im Gehen. Die beiden betreten gemeinsam den Dom. Sie scheinen sich zu kennen, denn sie reden miteinander.
(Abbildung 7, Quelle: Eigene Darstellung)
Im rechten Bildrand fährt ein weißes Auto vor, aus welchem ein Mann aussteigt. Er inspiziert zunächst die Konstruktion von außerhalb des Baustellenzauns und hebt diesen schließlich an, um die Konstruktion von der Innenseite des Zauns zu betrachten.
(Abbildung 8, Quelle: Eigene Darstellung)
Schließlich verschwindet der Mann hinter dem roten Zaun und
bleibt bis zum Ende der Aufnahme vor der Kamera verborgen. In der Mitte von Abbildung 8. ist der Mann zu sehen, welcher anfangs der Aufnahme gemeinsam
mit der Frau hinter dem blauen Auto aus der Eingangstür kam.
(Abbildung 9, Quelle: Eigene Darstellung)
Er kommt von der rechten Seite der Aufnahme und geht auf die
Frau zu, die seit er sie verlassen hatte, konstant hinter dem blauen Auto
verharrte. Sie legen beide ihre Fahrradhelme an. An diesem Punkt endet die
Aufnahme.
Durch die Eigenschaften des gefilmten Raumes kommt es zu wenig langwierigen Aufenthalt, es führt zu einer Art Durchzugs-raum. Konkret bedeutet dies, dass der Raum aufgrund von nicht existenten Aufenthaltsmöglichkeiten (wie zum Beispiel Sitzmöglichkeiten) selten dazu führt, dass sich fremde Personen begegnen oder interagieren. Der untersuchte Raum ist kein Freizeitraum im traditionellen Sinne. Trotzdem gibt es eben einen relativ großen Durchzug von Privatpersonen, nicht nur als Fußgänger, sondern auch in Kraftfahrzeugen und auf Fahrrädern. Da die erfasste Straße direkt außerhalb der Fußgängerzone der Innenstadt liegt und an den Parkplatz südlich des Freiheitsplatzes grenzt, kommt es zu einer erhöhen Verkehrsfrequenz. In Abbildung 10 ist in schwarz die Platzierung der Kamera und der einsehbare Bereich durch die Kamera in rot eingezeichnet.
(Abbildung 10, Quelle: OpenStreetMap)
Wie auch in „Geographien der Bewegung“ weisen die
analysierten Szenen auf die Importanz des physischen Raumes hin (vgl. Dirksmeier
et al, 2011, S. 99). Weiterführend lässt sich annehmen, dass auch die
kulturellen Aspekte des Ortes, hier der Grazer Dom, einen Einfluss auf den Raum
und die ihn benutzenden Personen hat, denn wie in den Aufnahmen zu sehen ist,
wird der Raum oft für den Zugang zum Dom genutzt. Abgesehen von Jenen, die den
Raum nur durchqueren, benutzen den Raum fast nur Leute, um Gebrauch von der
religiösen Einrichtung zu machen. Die Menge der passierenden Menschen würde
einen dauerhaften Aufenthaltsbereich nähren können, allerdings spricht der
mangelnde freie Raum nicht dafür.
Das Verhalten der Personen in den Aufnahmen wirkt wenig
verändert, wenn man es auf die sozialen Umstände der COVID19-Pandemie bezieht. Beim
Verlassen und Betreten des Doms kommen die Personen oft sehr nah aneinander,
wie zum Beispiel in Abbildung 5. oder 6. Darüber hinaus verwendete keine der
Personen einen Mund-Nasen-Schutz oder Desinfektionsmittel nach Verlassen des
Doms. Anhand der gefilmten Personen lässt sich keine Interaktion erkennen, die
durch die Pandemie auf eine offensichtliche Art beeinflusst wurde.
Anhand der Weise, in welcher das Material in der Arbeit „Geographien der Bewegung“ gehanhabt wurde, wurde auch das Material in diesem Post behandelt. Zunächst geschieht eine Beschreibung der Geschehen durch einen Text (siehe die Beschreibung der Screenshots). Folgend wird das Geschehene in Bezug auf den Raum kontextualisiert. In „Geographien der Bewegung“ geht es im Allgemeinen um Interaktionen zwischen fremden Personen und um die Interpretation derer (vgl. Dirksmeier et al, 2011, S. 99).
Ein kurzer Hintergrund
Die wachsende Relevanz von visuellen Methoden ist auf die
weit verbreitete Nutzung von Technologien (eben auch visuelle Aufnahmegeräte)
zurück zu führen. Die Basis dieser Entwicklung ist der „visual turn“. In der
postmodernen Sozialforschung wird diese Entwicklung als Ergänzung der zuvor
regulären Forschung auf Basis von Text und Sprache gesehen. Der „visual turn“
sorgte für das Einbeziehen des sozialen Raumes durch visuelle Medien in die
Sozialforschung (vgl. 2019, S.1).
Der Begriff „visual turn“ wurde in den 1990er Jahren geprägt.
Es ging dabei eben um die Diskussion der Visualisierung in den Humanwissenschaften.
Zufolge W. J. T. Mitchell entsprang die Frage nach dem Visuellen aus einer
Überschneidung von Kunstgeschichte, einer Disziplin, in der es um das
theoretische Objekt geht und Kulturwissenschaft, in welcher es sich um soziale
Strömungen und Entwicklungen dreht (vgl. Dikovitskaya, 2005, S. 47).
Die Annahme, dass Kultur von der Art und Weise, in der die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kultur ihre Umgebung interpretieren,
abhängig ist, führt zufolge Gillian Rose zu einem moderneren Konzept, der
Visualisierung in Bezug auf das Konstrukt des sozialen Lebens (vgl. Rose, 2007,
S.1). Die Relevanz von Bildern, Videoaufnahmen und anderen visuellen Medien stammen
von der Verfügbarkeit über eben diese Mittel. Aufnahmen der sozialen Umgebung
können allerdings nie eine wertfreie Aufnahme dessen sein, denn sie spiegeln die
Welt nicht neutral wider, vielmehr stellen sie sie oft in einem ganz bestimmten
Licht dar. Laut Gillian Rose ist deswegen der Unterschied zwischen „Vision“ und
„Visuality“ zu etablieren. Unter „Vision“ wird das verstanden, was das
menschliche Auge physisch sehen kann. Der Begriff „Visuality“ hingegen
beschreibt die Art, in welcher „Vision“ konstruiert wird (d.h. wie wir etwas
sehen, was uns gezeigt wird, etc.) (vgl. Rose, 2007, S.2).
Literatur
„Wieso Visuelle Soziologie?“
(2019), https://www.fb03.uni-frankfurt.de/76079960/VS_Wieso_Visuelle_Soziologie.pdf,
Universität Frankfurt
Dikovitskaya, M. „Visual Culture:
The Study of the Visual After the Cultural Turn“ (2005), https://books.google.at/books?id=gqeuSvEDM7cC&pg=PA47&dq=visual+turn&hl=en&sa=X&ved=2ahUKEwiq2-Tw7b3qAhUDtosKHU4gBdAQ6AEwA3oECAEQAg#v=onepage&q&f=false,
Massachusetts Institute of Technology
Rose, G. „Visual Methodologies: An
Introduction to the Interpretation of Visual Materials“ (2007), https://books.google.at/books?id=gnUPNcnYjcIC&printsec=frontcover&dq=gillian+rose+visual+methodologies&hl=en&sa=X&ved=2ahUKEwiLnZ_exr_qAhWi-yoKHWXwCXkQ6AEwAHoECAcQAg#v=onepage&q=gillian%20rose%20visual%20methodologies&f=false,
SAGE Publications
Dirksmeier, P. Mackrodt, U.
Helbrecht, I. „Geographien der Begegnung“ (2011), https://www.geographie.hu-berlin.de/de/Members/helbrecht_ilse/downloadsenglish/Begegnung,
Berlin
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